Sonntag Abend. Berlin. Es ist schon dunkel und die S-Bahn ruckelt gleichmäßig vor sich hin. Wir sind gerade eingestiegen und tragen unsere Masken, klar. Mittlerweile tun das alle, die mit der Bahn fahren. Wir sind alle schon ein wenig müde vom Tag, aber trotzdem zufrieden, denn wir haben gerade Freunde besucht, haben leckeren Kuchen gegessen, die Kinder haben heißen Kakao bekommen und wir hatten nette Gespräche. Ein gelungener Tag. Ein bisschen gereizt sind wir zwar noch vom kleinen Konflikt mit unserem Sohn, der sich auf der Bahnhofstation abgespielt hatte, aber jetzt sind wir in der Bahn und alle haben sich beruhigt. Ein Buch soll jetzt vorgelesen werden, das entspannt uns alle.
„Noch einer“, murmelt mein Mann. Ich drehe mich um und sehe einen nach Geld bettelnden Mann durch den Gang auf uns zukommen. Auf dem Hinweg ist uns bereits einer begegnet und wir hatten ihm ein wenig gegeben. „Wir müssen ja nicht jedem etwas geben“, flüstere ich zurück.
Es sitzen kaum Menschen in der Bahn. Seit Corona ist Bahnfahren eine ziemlich entspannte Sache, denn man ist fast alleine im Abteil, zumindest in den S Bahnen. Wir fahren auch seltener. Ja, kaum noch.
Schnell ist der Mann bei uns, es gibt ja auch kaum andere Menschen, die er ansprechen kann..
Wieder gibt ihm Jacob etwas. Ich denke, wenn Jacob etwas gibt, muss ich ja nicht auch noch etwas geben. Auch der Mann trägt eine Maske. Er bedankt sich.
„Blöd mit dem ganzen Masken tragen, oder?“, fragt Jacob. Er kommt schnell mit fremden Menschen ins Gespräch und stellt sich wahrscheinlich gerade vor wie es wäre, den ganzen Tag durch S Bahnen zu laufen, Maske auf dem Gesicht, und um Geld bitten zu müssen.
Der Mann nickt und fängt an zu erzählen. Seine Stimme klingt müde und traurig. Durch die Maske sieht man sein Gesicht kaum, aber er hat riesig dunkle Augenringe und seine Augen wirken müde und verweint.
Er sagt: „Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie es zur Zeit ist …“ Wir müssen uns anstrengen ihn zu verstehen. Der Zuglärm, die Maske und der Abstand machen es uns nicht leicht, alles zu verstehen, aber wir versuchen es.
„Den ganzen Tag heute habe ich nur ein paar Cent eingesammelt. Ein paar Cent! Die Leute laufen einfach nur noch vorbei. Keiner schaut mehr hin. Keiner. Alle schauen weg. Sie sind nur noch mit sich selbst beschäftigt. Seit Corona schauen alle nur noch weg … Was meint ihr, wie viele Tränen ich heute schon vergossen habe … Ich brauche 11 Euro für das Krisenhaus. Das muss man für eine Woche zahlen. Aber ich habe es nicht einmal ansatzweise zusammen... 8 Euro für das Zugticket … und das Essen muss man sich dort auch selbst mitbringen.“
„Wie viel Geld müsst ihr für das Krisenhaus zahlen?“ will ich noch einmal wissen, für den Fall, dass ich es durch den Bahnlärm nicht richtig verstanden hatte. „11 Euro“, wiederholt der Mann.
Ich hole mein Portmonee heraus in der Hoffnung, doch ein bisschen mehr dabei zu haben als ein bisschen Kleingeld. 11 Euro, denke ich. 11 Euro und er hat für eine Woche einen sicheren Schlafplatz. Ich bin erleichtert und finde 10 Euro in meinem Portmonee und gebe es ihm. Er nimmt es dankbar an und setzt sich zu uns. Höchstwahrscheinlich sind wir die ersten Menschen, mit denen er heute ein längeres Gespräch führt. Die ersten, die ihm zuhören.
„Ich bin jetzt 47 Jahre alt“, fährt der Mann fort. „Und einmal habe ich es erlebt. Ich weiß es noch genau. Einmal. Da hat mir eine Frau 50 € geschenkt. Das war wie ein 6er im Lotto für mich, das könnt ihr euch überhaupt nicht vorstellen. Es ist so selten, dass die Leute mal mehr geben. 10 €, 20 € … es ist so selten. Und Sie haben ja auch noch ein Kind. Das kostet ja auch so viel … Also, vielen Dank!“
Trotzdem bleibt die Traurigkeit in seiner Stimme. Die Verzweiflung. „Ich wollte letztens einfach los, mir meinen Kühlschrank auffüllen im Krisenhaus. Auch das Gefrierfach, einfach alles mal richtig auffüllen. Ich hatte 400 € im Portmonee, und dann hat man mich überfallen und ausgeraubt. Das Geld haben sie raus genommen, meinen Ausweis … für den hatte ich 28 Euro bezahlt! Sogar meine Jacke haben sie genommen, dabei war sie aus der Altkleidersammlung!“
Erst jetzt fällt mir auf, dass er tatsächlich nur ein kariertes leichtes Hemd anhat. Eine warme Jacke war nirgends zu sehen. Ich bin über mich selber erschrocken, dass mir das überhaupt nicht aufgefallen war. Mit welchen Scheuklappen laufe ich durch die Gegend, frage ich mich insgeheim.
Meine Gedanken kreisen. Es ist kalt. Mindestens 0 Grad. Hier in der Bahn natürlich nicht, aber draußen. Und der arme Mensch hat nur ein Hemd... Und es ist Sonntag. Kein Geschäft hat auf … und wir sitzen in einer S Bahn … Ich hoffe, dass unser Geld ihm über die nächsten Tage hilft und er auf mehr barmherzige Menschen trifft. Denn auf diese ist er tatsächlich angewiesen.
„Dann gehe ich mal und versuche mein Glück noch woanders“, schließt der Mann, steht auf und möchte gehen. Ich frage ihn nach seinem Namen, sodass wir weiterhin für ihn beten können. „Marko“, sagt er. Bedankt sich und geht.
Danach machen Jacob und ich uns noch so unsere Gedanken, wie es wohl die meisten Menschen tun nach so einer Begegnung „Haben wir ihm zu wenig gegeben? Haben wir ihm zu viel gegeben? War es die Wahrheit, was er uns erzählt hat? Hätte man mehr für ihn tun können?“
Wir sind uns einig, dass jemandem, dem es so offensichtlich schlecht geht, auf jeden Fall geholfen werden muss, wenn es irgendwie geht.
Aber die Geschichte geht noch ein bisschen weiter.
Ich bin mit meinen Gedanken schon wieder beim beginnenden Alltag. Es ist bereits Montag. Montag Abend und ich habe die Begegnung mit Marko schon fast wieder verdrängt.
Wir haben bei uns im Flur einen Abreiß- Kalender mit den Losungen hängen. Das sind Bibelverse, die für das ganze Jahr ausgelost werden. So gibt es für jeden Tag zwei Bibelverse – einen ausgelosten aus dem Alten Testament, und dann einen passenden dazu aus dem Neuen Testament.
Da unser Wochenende relativ turbulent war, habe ich vergessen, für die letzten beiden Tage die jeweiligen Zettel für den Tag abzureißen. Also fange ich an, mir den Vers für Samstag durchzulesen, und ihn abzureißen. Dann fahre ich mit Sonntag fort. Ich will ihn durchlesen und dann abreißen – klar, wir haben ja mittlerweile auch schon Montag.
Ich lese:
Sonntag, 3. Januar
„Wenn du den Hungrigen dein Herz finden lässt und den Elenden sättigst, dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen.“ Jesaja 58,10
„Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“ Lukas 6,36
Mein Herz fängt schneller an zu schlagen. Dieser Vers ist wie für letzten Sonntag geschrieben. Diese Begegnung mit Marko am Sonntag scheint mir plötzlich wie von Gott arrangiert. Oder die Losung war von Gott arrangiert. Auf jeden Fall war hier Gott im Spiel. Denn das war sicherlich kein Zufall. Noch dazu ist der zweite Vers die Jahreslosung für dieses Jahr.
„Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“ Lukas 6,36 (Jahreslosung für 2021)
Plötzlich wird mir klar, dass es in diesem Jahr, in dieser Zeit, ja, in dieser jetzigen Corona Situation so viele Gelegenheiten geben wird, Barmherzigkeit zu üben, wie wahrscheinlich noch nie zuvor in unserem Leben.
Wir haben die Gelegenheit demjenigen Barmherzigkeit zu erweisen, der traurig ist, der einsam ist, der sich missverstanden fühlt, dem alles über den Kopf wächst, der wütend ist, der sich betrogen fühlt, der Angst hat, der sich Sorgen macht, der alles verloren hat.
Barmherzig zu sein mit denen, die viel Verantwortung für unser Land tragen.
Barmherzig zu sein mit den Singles, die nun mit viel Einsamkeit zu kämpfen haben.
Barmherzig zu sein mit den Familien, die nicht wissen, wie sie ihre Kinder betreuen sollen durch die Schul – und Kitaschließungen.
Barmherzig zu sein mit den Müttern, Vätern, Pflegekräften, Krankenschwestern und Ärzten und vielen mehr, die nun vor Erschöpfung nur noch weinen könnten.
Barmherzig zu sein mit dem Partner, bei dem die Nerven blank liegen.
Barmherzig zu sein auch mit sich selber.
Und mit Gott.
Lasst uns wieder neu lernen, was es heißt, barmherzig zu sein, wie unser Vater im Himmel barmherzig ist.
Das wird zumindest mein Vorsatz sein fürs neue Jahr. Ich bin gespannt, wohin es mich führen wird …
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